Tagebuch




Hiking in the woods

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Jürgen im Tipsy Tails Restaurant, Alma, NB

Das Zimmer ist einfach, die Nacht war gut. Um 07:00 Uhr bin ich wach. Es gibt hier nicht nur wenige Steckdosen, um die diversen Elektrogeräte zu laden, die wenigen vorhandenen sind auch noch so labberig, dass die Stecker immer rausflutschen. Das ist ein bekanntes Problem, auch in den USA, nervt aber jedes mal aufs Neue. Gabis iPhone und Apple Watch hatte ich heute Nacht an der Powerbank - die anderen Geräte wechseln sich ab.

Um so verwunderlicher, dass wir heute beim Weg zum Frühstück in beiden Treppenhäusern jeweils 2 Steckdosen in 2,20 m Höhe auf einem Treppenabsatz entdecken. Was steckt man denn dort ein?

Bevor ich frühstücken kann muss ich aber noch eine Frage von gestern aufklären. Dass die Bay of Fundy mit dem "Rhythmus der Gezeiten mitschwingt" habe ich nicht verstanden - weder gestern im Interpretive Center noch beim Schreiben am Abend. Also recherchiere ich das nochmal im Internet und hier kommt die Auflösung:

Warum das Wasser hier so extrem steigt und fällt, hat mit der Form der Bay zu tun. Am einfachsten lässt sich das mit einer Schaukel vergleichen: stößt man sie immer genau im richtigen Moment an, schwingt sie höher und höher. Genauso ist es hier – der Rhythmus von Ebbe und Flut passt fast genau zur Länge der Bucht.

Jede neue Flutwelle verstärkt also die vorige, das Wasser schaukelt sich regelrecht auf. Weil sich die Bay zudem wie ein Trichter verengt, staut sich das Ganze noch zusätzlich. Heraus kommt ein Tidenhub, der mit über 20 Metern der größte der Welt ist - Weltrekord!

Jetzt zum Frühstück. Wir sitzen bei einem Paar aus Ontario, quatschen und lassen uns Bagel, Toast, Eier, Obst, Yoghurt, O-Saft, Kaffee & co. schmecken. Alles ohne Plastikteller oder -besteck; das ist vorbildlich.

Um 09:00 Uhr sind wir wieder bei den Hopefull Rocks, gehen die Aussichtspunkte in umgekehrter Reihenfolge noch einmal ab und schauen uns an, wie das hier bei „High Tide“ aussieht. Ok, so einen bis zwei Meter müssen wir uns noch dazu „denken“, wir sind etwas früh - bis zum Höchststand gegen 10:00 Uhr ist es noch etwas Zeit. Unglaublich, dass diese gigantischen Mengen Wasser seit gestern Mittag schon 2 x in die Bay hinein- und einmal in der Nacht hinausgeflossen sind. Wir treffen die 2 Mädels wieder, die uns gestern ständig im Weg standen mit ihren „ich mach mal ein 360-Grad-Video bei dem sich alle meine Freundinnen übergeben müssen weil ich mich so schnell um die eigene Achse drehe“. Als wir am Parkplatz aus dem Auto stiegen, hielten sie genau vor uns. Wir mussten alle heftig lachen und ich erfuhr, dass die beiden eine Kajaktour gestern Morgen bei Hochwasser gemacht hatten. Ein echtes Abenteuer mit 60-70 cm hohen Wellen. Es gibt in der Bay auch Raftingtouren mit dem einströmenden Hochwasser - irre, wie das abgeht, wenn die Flut kommt.

Ähnlich eindrucksvoll wie hier bekommen wir heute den Unterschied von Flut und Ebbe in Alma, am Tor zum Fundy NP hautnah zu spüren. Dorthin fahren wir jetzt mal und in 40 Minuten sind wir dort. Wir parken am Alma Harbour und machen Bilder von den dort verankerten Booten. Es ist Hochwasser, wie ihr wisst, denn gerade waren wir deswegen ja noch bei den Hopewell Rocks. Wenn wir heute Abend zurückkommen nach Alma, wird hier Ebbe sein.

Wir lösen nun am Eingang zum Fundy NP endlich unsere Anual Pässe für die Nationalparks Canadas, die nun bis Ende September nächsten Jahres gültig sind. Ist das wohl ein Wink mit dem Zaunpfahl?

Im Visitor Center lassen wir uns ausführlich beraten und wie erwartet, wird es nicht einfach, aus der Vielzahl der Möglichkeiten auszuwählen. Luxusproblem! Immerhin erschließt ein 120 km langes Wegenetz die Küste, Berge, Täler, Flüsse und Wasserfälle des Parks. Bis zu 300m hohe Hügel der Caledonia Highlands, die hier zur Bay of Fundy abfallen, prägen das Landschaftsbild des Parks. Die Hügel im Hinterland des NP sind von tiefen Tälern durchschnitten und zumeist mit Mischwald bewachsen. Die Fauna umfasst Elche, Biber und Schwarzbären sowie den seltenen Wanderfalken. Die junge Rangerin empfiehlt und 5 Trails im Fundy NP - da haben wir einiges zu tun.

Bezüglich der Option, auch noch vom Nordrand des Parks über Little Salmon River West zum Fundy Trail Parkway zu fahren, einer malerischen Küstenstraße mit vielen Aussichtspunkten, Wanderwegen und Stränden, ist sie zwiegespalten. Das lohnt sich evtl. schon, ist aber mit viel Autofahrt verbunden und verkürzt die Aufenthaltszeit im Fundy NP.

Also nehmen wir erst mal den Dickson Falls Trail in Angriff. Das ist ein schöner Weg, der von diversen sehr gepflegten Stufenanlagen unterstützt wird. Der Weg ist das Ziel - uns ist bewusst, dass aufgrund der Trockenheit kein Wasser fließt am Wasserfall. Macht nix, das war eine schöne Runde. Und das Bild vom „trockenen“ Wasserfall ist eigentlich unbrauchbar und überflüssig. Wenn ich nicht nicht mal sehen wollte, was in 2 Minuten Photoshop zu damit zu machen wäre. „Wasserfall“ generieren - und schon wäre das Bild brauchbar - erst recht, wenn man sich mehr Mühe geben würde. Schaut euch den Vergleich mal bei den Fotos an - das hat mit Fotografie aber nix zu tun und ich werde das deshalb nicht nochmal machen! No way!

Weiter geht es die Wolfe Road entlang bis zu einer Covered Bridge. Warum die hier regelmäßig Brücken einhausen ist uns nicht klar, finden wir aber noch heraus. Schön aussehen tut es allemal. Der Shiphaven Trail eröffnet Blicke auf das Wasser und es ist gut zu sehen, dass die Ebbe eingesetzt hat, weite Flächen fallen trocken. Es hat sich zugezogen und der Wind frischt frisch auf.

Kaum sind wir später wieder auf der #114 Richtung Norden durch den Park unterwegs zeigt sich wieder der blaue Himmel und die Sonne. Die Farben knallen, wir können nicht glauben, dass wir bisher so ein Wetterglück haben.

Nun halten wir kurz an einem Aussichtspunkt an - grandiose Fernsicht. Das nächste Ziel verpassen wir knapp und landen am Bennet Lake. Schön hier, aber unsere beiden Wanderungen sollten eigentlich etwas weiter südlich stattfinden- - also nochmal rein ins Auto uns zurück. Immerhin haben wir nun entschieden, den Fundy Trail Parkway sausen zu lassen. Das wären mindestens 2,5 Stunden zusätzliche Autofahrt gewesen zzgl. der Stopps und Wanderungen. Das ist uns dann doch zu viel Fahrerei, nur um Viewpoints auf die Bay bei Ebbe zu haben. Da nutzen wir lieber das perfekte Wetter für weitere Wanderungen und kosten den Fundy NP voll aus. Gute Entscheidung!

So folgt der kürzere Caribou Plain Boardwalk und der gut einstündige Caribou Trail, jeweils durch wunderbaren Wald und mit zwischenzeitlichem Blick auf Wasserflächen. Neben den satten Grüntönen und dem Lichtspiel zwischen den unzähligen Bäumen fällt und wieder dieser süße, volle und intensive Duft auf, den der Wald auch hier verströmt. Und das außergewöhnliche Moos erweckt den Eindruck, dass der ganze Wald mit einem flauschigen Teppich ausgelegt ist. Auch die kleinen Dinge am Wegesrand verdienen Aufmerksamkeit, z.B. seltsame Pilze an den Bäumen. Es ist so schön, hier zu wandern! Und wir sind überall fast komplett allein. Alle Stunde trifft man mal Leute, aber der Eindruck ist eigentlich: wir sind allein hier unterwegs.

Zwischenfazit: bisher übertrifft unsere Reise alle unsere Erwartungen. Es ist tatsächlich das totale „we’re off“ - „wir sind weg“. Hin und weg, müsste es eigentlich heißen. Arbeit und Alltag sind so weit weg. Natur und Erlebnisse hier sind voll präsent. Ruhe, Wärme, Erholung, Genuss, Bewegung, Runterkommen und Baden in unbeschwerter Entspannung begleiten uns jede Minute. Das ist bisher der perfekte Urlaub! Und heute hatten wir einen perfekten Tag „hiking in the woods“.

Super glücklich bin ich auch mit meiner neuen Z8 und den tollen Objektiven. Von Tag zu Tag lerne ich die Kameraausrüstung mehr zu schätzen. Schnell, präzise, individuell nutzbar und so scharf. Was der Autofokus leistet ist mit Worten nicht zu beschreiben. Heute mittag habe ich ein Eichhörnchen, dass nur einen winzigsten Teil des Bildes ausmachte (ich hatte wie meist das 24-70 drauf und das kleine Kerlchen war weit weg) anvisiert und zack: der Fokus sitzt auf diesem Miniauge. Total unglaublich. Und ich habe jetzt eine Briefmarke aus dem Foto herausvergrößert; das Eichhörnchen war auf dem Foto nicht mal zu erkennen. Dabei ist das Ergebnis sogar noch gut zu verwenden.

Es ist später Nachmittag geworden und wir fahren zurück nach Alma. Dort liegen die Boote nun alle auf dem Trockenen - schaut euch mal die Bilder an und vergleicht. Gleicher Platz wie heute Vormittag - aber völlig neue Perspektiven. Und das wiederholt sich 2 Mal täglich …

Und jetzt ist es auch Zeit für unsere erste Lobster-Roll im „Tipsy Tails Restaurant“, eine der absoluten Spezialitäten hier. Hummer im Baguette-Brötchen, dazu gönne ich mir Poutine (Pommes mit Bratensoße und Cheese-Curts, Käsebrocken - auch so eine Spezialität, die wir 2023 schon getestet und für gut befunden haben.). Gabi nimmt Salat, der auch gut ist. Light-Beer vom Fass - passt schon. Lecker!!!!!

Nun machen wir noch einen Abstecher über eine sehr gewundene Strecke zum Cape Enrage mit dem ältesten Leuchtturm von New Brunswick (gebaut 1840, ersetzt 1870) und mit einem weiten Blick über die Bay of Fundy. Der Zugang ist gesperrt, aber Fotos sind möglich.

Zurück in der Unterkunft sitzen wir noch 90 Minuten draussen in der Sonne und schreiben Tagebuch. Dabei gönnen wir uns ein Glas Wein oder zwei - die Mücken, die uns hier stechen sollen ja auch ihren Spaß haben.

Als wir wieder auf dem Zimmer an den Fotos arbeiten kommt der freundliche Herr von der Rezeption über den Flur gehuscht. Er klopft an jede Tür: „Moose!!!“ Er hat draussen einen Elch entdeckt und wir stürmen in den Gartenbereich. Weg ist das Tier - zu viel Aufregung. Uns bringt dieser kleine, spontane Ausflug aber an die Bar, wo wir ein super nettes Paar aus Niagara Falls kennen lernen. Wir trinken zwei Whisky zusammen und plaudern über Gott und die Welt. Das gefällt uns. Großes Interesse haben die beiden an unseren Fotos und ich könnte mir vorstellen, dass uns jetzt zwei weitere liebe Menschen auf der Website folgen.

So, jetzt ist das Tagebuch fertig und die Fotos sind es auch. Alles noch montieren auf die Website und dann hochladen, so dass ihr morgen früh etwas zu lesen und schauen habt. Gute Nacht - morgen nehmen wir uns den nächsten Nationalpark in New Brunswick vor.

Tagesetappe: 149 Kilometer
Übernachtung: The Shepody Bay Inn, 4941 NB-114, Shepody, NB E4H 4K2

© 2025 Gabi & Jürgen